mach mal langsam!
Carla Wagener ist undynamisch
Meine Kollegin war auf Geschäftsreise in Frankfurt und total begeistert. Alles so dynamisch da! Findet sie toll. Ich leg mich lieber wieder hin.
Das ist genau die Kollegin, die morgens immer durch die Flure rennt und total engagiert „Guten Morgeeeeeeeeeeen!“ ruft. Zwei Stufen zu laut, eine Oktave zu hoch, und das vor meinem dritten Kaffee. Nein, ich bin kein Morgenmuffel. Ich möchte nur in Ruhe auf Betriebstemperatur kommen und erst mal konzentriert die wichtigsten Dinge wegarbeiten, bevor ich mit Energieschüben irgendwelcher Art behelligt werde.
Sie jedoch reitet voll auf der Dynamisierungswelle: Alles muss schwungvoll und flexibel sein, schon morgens im Berufsverkehr hat sie 200 Puls und scheucht alle vor sich her. Der Frühstücksapfel ist selbstverständlich biodynamisch, sie ist immer in Bewegung, auch im Urlaub muss sie was erleben, sie braucht den Kick. Sich erholen, bummeln, am Strand liegen – das ist so letztes Jahrtausend.
Früher hätte man sie Unruhegeist genannt, heute ist sie dynamisches Vorbild. Bloß kein Stillstand, nur keine Ruhe, denn in ihr liegt nicht die Kraft. Im Gegenteil – die Trägheit, das Verharren: Das ist das Böse, die Unbeweglichkeit, der Niedergang. Alle müssen raus aus der Komfortzone: „Wo die Angst ist, geht’s lang“, raunt mir der Karrierecoach ins Ohr, bloß nicht bequem werden und zwischen Job und karriereförderndem Netzwerkmeeting am Abend noch schnell irgendein „Brutal Ladder Workout“ auf Youtube einschieben, das tagelangen Muskelkater aus der Hölle schenkt.
Man liest es ja allenthalben, dass die wirklich Erfolgreichen nur so gut sind, weil ihr Tag schon um 4.30 Uhr mit Yoga und dem Scannen der Nachrichten beginnt. Schlafen wird überbewertet, echte Karrieretypen haben vormittags schon mit der Familie gefrühstückt, die wichtigsten Mails verschickt, den Tag geplant und über die Weltherrschaft nachgedacht. Da wir Einfachen das einfach nicht hinkriegen, sollen wir wenigstens alle paar Wochen die Wohnung umräumen, regelmäßig die Freundesliste ausmisten und beim Meditieren nicht etwa gemütlich einschlafen, sondern energetisch die Chakren kreisen lassen.
Und am Ende springen wir so dynamisch in die Kiste, dass es kracht.
Erschienen in: CWT Connect, Ausgabe 03-2015 (PDF, ca. 9 MB) Illustration: Matthias Seifert
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