eat it or delete it

Ich gestehe: Ich lästere manchmal per E-Mail. Aber nur ein klitzekleines bisschen. Ich schwör‘s! Zu diesem Zwecke haben die Lieblingskollegin und ich einen Code eingeführt, der die Mail als Lästermail kennzeichnet. Twitterer würden vermutlich ein Hashtag #lästerei setzen. Andere Social-Media-Affine schrieben als Disclaimer vielleicht „Achtung, Lästercontent!“ Nicht so wir. Wir sind altmodisch: Schreibe ich eine Mail an die virtuelle Büronachbarin, die vom streng beruflichen Inhalt ganz ausnahmsweise mal in eine persönlich-bewertende Richtung driftet, steht im PS: „Bitte Mail nach Erhalt aufessen.“ Wenn es ganz schlimm ist, schreib ich das statt der Anrede hin. Oder gleich in den Betreff. Damit sie sofort weiß, womit sie rechnen darf.

Das ist natürlich totaler Quatsch. Das mit dem Aufessen, meine ich. Wie soll das gehen? Ausdrucken und das Papier essen? Schlecht für die Umwelt und die Verdauung. Und die E-Mail selbst wäre ja trotzdem noch da (ganz so altmodisch sind wir dann doch nicht, als dass wir das nicht wüssten). Elektronisch. Virtuell, aber doch irgendwie existent. In ihrem Mailprogramm. Und in meinem, bei den gesendeten Objekten. Wie ein Gespenst, buuuuh!

Betrachtet man diese eigentlich sinnlose Aufforderung jedoch genauer, zeigt sie jenseits der fehlenden praktischen Sinnhaftigkeit, wie wir gestrickt sind. Wir gehören eben einer Generation an, die durch Korrespondenz auf Papier sozialisiert ist. Mitteilungen an die Versicherung, die Krankenkasse, den Liebsten – das bannten wir trotz Waldsterben auf dieses Relikt des letzten Jahrhunderts, und oft sogar mit der Hand! Das mit dem Mailen ist ja nur ein Fliegenschiss der Geschichte, gemessen an der jahrhundertelangen Praxis des Schreibens auf Papier. So leicht schüttelt man das nicht ab. Außerdem sind wir von Agentenfilmen der 1970er-Jahre geprägt, in denen nicht selten schriftliche Beweisstücke aufgegessen wurden, um einer Entdeckung zu entgehen. Was war das damals noch einfach!

Denn auf den ersten Blick mag es zwar viel leichter erscheinen, eine E-Mail zu vernichten. Delete drücken, fertig. Aber was, wenn die Empfängerin das nicht macht? Sie muss sie ja noch nicht mal böswillig weiterleiten – zum Beispiel an das belästerte Subjekt. Da sei das gegenseitige Vertrauen vor, dass das nicht passiert. Aber stellen wir uns mal vor, sie macht so gewissenhaft Datensicherung, dass die Mail mit dem fiesen Inhalt jahrzehntelang von Festplatte zu Festplatte weitergespeichert und womöglich zwischendrin noch auf DVD gebrannt wird, sodass nachfolgende Generationen sie vielleicht sogar mehrfach auffinden könnten? Und meine Enkel lesen dann Auslassungen wie „Hast Du das von der Kollegin aus B. gelesen? So eine Ziege!“ oder „Die Kundin hat das Konzept immer noch nicht kapiert. Ob es an der Haarfarbe liegt?“ Wie peinlich! Da bleibt mir der nächste Lästercontent glatt in der Tastatur stecken.

Und selbst wenn wir sie beide löschten: Zu glauben, sie wäre dann wirklich weg, ist bestenfalls naiv. Man muss ja heute kein Mitglied im Chaos Computer Club mehr sein, um Gelöschtes mit irgendwelchen schlauen Tools wiederherstellen zu können. Jede CD-Beilage des dümmsten PC-Heftchens enthält sowas mittlerweile. Jaja, das dauerhafte Löschen ist eine echte Wissenschaft geworden. Gilt übrigens auch für Verflossene, mit denen man sich zur aktiven Zeit unvorsichtigerweise auf allen Kanälen verbandelt hat. Bis man diese Spuren alle ausgetreten hat, ist man echt beschäftigt! Und am Ende poppt der Ex dann wie ein Untoter über Google+ oder Wer-kennt-wen wieder hoch, weil man diese Accounts schon längst vergessen hatte. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

Wissen Sie was? Das ist mir alles zu anstrengend. Ich ess‘ die Mail einfach auf.

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Texterin, Redakteurin, Bloggerin. Liefert Konzept, Text und Redaktion für Web, Werbung und Corporate Publishing. Bloggt hier übers Leben und Texten und dort übers Reisen: rumreiserei
2 Kommentare
  1. Nik sagte:

    Hi Annette,

    spannendes Thema, gut aufgerissen. Sehr wahrscheinlich ist die Geschichte des Schreibens insgesamt eine Geschichte des Löschens. Lästerliches ist dabei auch zur Berühmtheit gelangt:
    Durch die Kunst, die durch Auflösung entsteht. Berühmtestes Beispiel ist Rauschenbergs Ausradierung eines Werkes von de Kooning, welches dann selbst als Kunstobjekt zur Berühmtheit wurde:
    http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,553127,00.html

    Unter dem Gelöschten verbirgt sich – sichtbar unsichtbar – das Wissen um das gewesene Kunstwerk. Wir betrachten hier das “Wissen” und bewundern die “Technik” des Löschen des Kunstwerks, denn ebenso wie das Kunstwerk, war dessen Löschen eine Kunst – es war technisch sehr anspruchsvoll, das Werk zu löschen, ohne die Trägersubstanz zu zerstören.
    Eine andere Art des Aufessens ;-))
    LG
    Nik

  2. HBaller sagte:

    Meine nächtliche Assoziation: Das Palimpsest – hier nur virtuell und ebenso dechiffrierbar wie die originale aus Pergament aus Altertum und Mittelalter. Sehr schön!

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