virtuelle transparenz
Carla Wagener surft
Gerade lese ich, dass einer Studie zufolge soziale Netzwerke im Internet immer wichtiger werden – auch für Geschäftsreisen und -meetings. 80 Prozent der Befragten sind tagsüber in sozialen Netzwerken aktiv – also in der Regel am Arbeitsplatz.
40 Prozent können nicht mehr ohne Social Media leben (ach du Schreck!) und drei Viertel der Leute zwischen 25 und 35 nutzen sie auch für die Reiseplanung. Und: Mehr als die Hälfte checkt die virtuellen Profile ihrer neuen Kontakte vor einem geschäftlichen Termin! Das eröffnet mir ungeahnte Möglichkeiten, wieso bin ich darauf noch nicht selbst gekommen? Keine Überraschungen mehr beim ersten Treffen mit einem neuen Geschäftspartner, wie praktisch! Da kann ich mir ja schon vor dem Termin Notizen zu Herrn Meier machen, den ich nächste Woche treffe. Smalltalk vorab gehe ich gezielter an, denn über seine Hobbys weiß ich dann auch schon Bescheid. Der Begriff „Pre-Trip-Reporting“ bekommt eine ganz andere Bedeutung.
Da suche ich doch schnell mal Herrn Meier im bekannten Business-Netzwerk. Aha: Kein Foto, keine Premium-Mitgliedschaft. Ein lückenhaft ausgefülltes Profil, nichts zu Interessen oder Lebenslauf, keine Angaben bei „Suche“ oder „Biete“. Was sagt mir das? Ein knauseriger Mensch, der noch nicht mal die paar Euro im Monat für den Premium-Status ausgeben mag? Vielleicht ein paranoider Datenschützer, der nichts von sich preisgeben will? Warum ist er dann überhaupt drin? Will wohl selbst nur gucken, aber nicht geguckt werden, was?! Garantiert muss ich mich beim Verhandeln mit dem warm anziehen!
Bestimmt ist er einer dieser Old-Economy-Vertreter, der sich seine E-Mails noch von der Sekretärin ausdrucken lässt! Weniger als 20 bestätigte Kontakte – am Ende ist das einer dieser kontaktscheuen, verschlossenen Typen. Schweigt in der Besprechung minutenlang. Das macht mich immer total nervös! Möchte ich mit so jemandem überhaupt eine Partnerschaft eingehen? Ich glaub, ich sage den Termin ab.
Das Telefon unterbricht mich beim Schreiben der Absage-Mail. „Meier, hallo Frau Wagener!“ – Huch! Die Stimme klingt überraschend nett für so einen Kontaktscheuen. Und gar nicht so alt. „Ich habe gerade gesehen, dass Sie auf meinem Profil waren.“ Ich murmele Unverständliches. „Aber da ist noch kaum was drin, ich bin erst seit ein paar Tagen Mitglied und komme noch nicht so recht klar damit. Bestimmt wollten Sie schon mal schauen, was wir so anbieten, oder?“ – Mist, ertappt! Ich brumme zustimmend. „Ich schicke Ihnen einfach eine Präsentation vorab, dann können Sie bei unserem Termin nächste Woche gezieltere Fragen stellen. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen. Bis nächste Woche also, einen schönen Tag noch!“
Schon praktisch, dieses Social Media.
Erschienen in: CWT Connect Magazine, Ausgabe 01-2011
Illustration: Matthias Seifert
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Auf den Punkt meine Liebe :)